Ein Kommentar zu “Mails an Bundestagsabgeordnete senden

  1. Betreff: Ein selbstbestimmtes Leben bedeutet…

    Sehr geehrter Herr/Frau Bundestagsabgeordnete/r,

    ich wende mich heute an Sie mit einem wichtigen Anliegen im Hinblick auf den derzeit diskutierten Entwurf des Bundesteilhabegesetzes.

    Wie Sie vielleicht schon wissen, stößt der Entwurf auf heftige Kritik von Seiten der Betroffenen und dies, obwohl doch erklärtes Ziel des Gesetzes ist, die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung zu stärken.

    Um dieses Ziel zu erreichen, möchte ich Sie bitten, sich besonders bei folgenden Themen für uns Betroffene einzusetzen:

    1. Ein selbstbestimmtes Leben bedeutet selbst zu entscheiden, wo und mit wem man lebt und wie man seinen Tag gestaltet. Das Teilhabegesetz muss deshalb festschreiben, dass kein Mensch aufgrund seiner Behinderung gezwungen werden darf, in einem Heim zu leben.

    Das in dem Gesetzesentwurf vorgesehene Wunsch- und Wahlrecht (§ 104 BTHG-Entwurf) ist wie bisher voll von unbestimmten Rechtsbegriffen, die von Ämtern ausgelegt werden. Schon jetzt müssen viele Betroffene sich deshalb einen Auszug aus dem Heim vor Gericht erkämpfen. Verschlimmert wird die Situation nun dadurch, dass mit der Aufhebung der Unterscheidung ambulant/stationär auch der Grundsatz „ambulant vor stationär“ in der neuen Eingliederungshilfe entfällt. Dazu kommt ein Kostenvergleich der ebenfalls von Ämtern so interpretiert werden wird, dass Betroffenen das individuelle Leben im eigenen Zuhause verweigert werden wird. Nach der Gesetzesbegründung hingegen ist gar nicht gewollt, dass Kosten von Individualleistungen mit denen der Gruppenleistung verglichen werden. Dies muss jedoch im Gesetzestext klargestellt werden!

    Bitte setzen Sie sich dafür ein, dass der Wortlaut von Art. 19 der UN-Behindertenrechtskonvention, die seit 2009 in Deutschland geltendes Recht ist, übernommen wird: die Garantie, dass Menschen mit Behinderung „gleichberechtigt die Möglichkeit haben, ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu entscheiden, wo und mit wem sie leben, und nicht verpflichtet sind, in besonderen Wohnformen zu leben“.

    2. Zu einer ähnlichen Einschränkung der Selbstbestimmung führt die vorgesehene Regelung zur gemeinsamen Erbringung von Assistenz (§ 116 Abs. 2 BTHG-Entwurf) – ohne Zustimmung der Betroffenen! Wenn sich mehrere Betroffene eine Assistenzkraft teilen müssen, bedeutet dies, dass Aktivitäten nur noch in der Gruppe stattfinden können. Statt mit den eigenen Freunden abends essen oder ins Kino zu gehen, hat man dan nur noch die Möglichkeit, mit fremden Personen, die zufällig auch eine Beinträchtigung haben, die Freizeit zu gestalten. Man muss seine Tagesplanung von einer Gruppe abhängig machen und kann sich die eigenen Assistenzkräfte nicht mehr auswählen, obwohl diese Zugang zur engsten Privat- und Intimssphäre haben.

    Ich bitte Sie deshalb, sich für eine Regelung starkzumachen, die eine gemeinsame Erbringung im Bereich Persönlicher Assistenz von der Zustimmung der Leistungsberechtigten abhängig macht.

    3. Nach der neuen Regelung des § 99 Abs. 1 BTHG-Entwurf muss man grundsätzlich in mindestens 5 von 9 Lebensbereichen Unterstützung benötigen (bzw. in 3 von 9 Bereichen auch mit Unterstützung nicht teilhaben können). Zwar gibt es eine Ermessensregelung, nach der auch Personen mit weniger Hilfebedarf „im Einzelfall“ leistungsberechtigt sein „können“, wenn sie „in ähnlichem Ausmaß“ Unterstützung benötigen, aber das reicht nicht: Wenn ein Mensch aufgrund einer Beeinträchtigung in einem oder zwei Lebensbereichen Hilfe benötigt (z.B. als sehbehinderter Stundent nur eine Vorlesekraft in der Bibliothek), muss er einen ANSPRUCH auf Eingliederungshilfe haben.
    Bitte machen Sie sich dafür stark, dass jede Person, die Hilfe zur Teilhabe zwingend benötigt, diese Hilfe auch bekommt – egal, in wievielen Lebensbereichen die Teilhabeeinschränkung besteht.

    3. Die im BTHG-Entwurf enthaltenen Verbesserungen bei der Vermögensanrechnung sowie die längst überfällige Abschaffung der Anrechnung des Partnereinkommens und – vermögens kommen entgegen der offiziellen Darstellung nicht allen Menschen mit Behinderung zugute. § 91 Abs. 1 BTHG-Entwurf regelt den Nachrang der Eingliederungshilfe. Das bedeutet, wer neben Eingliederungshilfe auch Hilfe zur Pflege beziehen muss, wird weiterhin nach den Regelungen des Sozialhilferechts behandelt. Das bedeutet, dass grundsätzlich weiterhin nur 2.600 € erspart werden dürfen und der Partner mit seinem Einkommen und Vermögen voll herangezogen wird. Eine Ausnahme gilt nur für Erwerbstätige.
    Bitte setzten Sie sich dafür ein, dass die Eingliederungshilfe grundsätzlich die Bedarfe der Hilfe zur Pflege mitumfasst. Das Erreichen von gleichberechtigter Teilhabe am Leben steht bei Leistungsberechtigten der Eingliederungshilfe im Vordergrund.

    4. Gut ist, dass das erlaubte Vermögen ab 2020 auf 50.000 € angehoben wird (allerdings nicht für alle, siehe 3.). Dass keine völlige Freistellung erfolgt, zeigt aber, dass man weiterhin dem Gedanken der Fürsorge und Sozialhilfe verhaftet bleibt, denn die Begrenzung erfolgt nicht aufgrund fiskalischer Notwendigkeit: Es gibt keinerlei Berechnung, wieviel die Einkommens- und Vermögensprüfung kostet im Vergleich zu erzielten Einnahmen aus Eigenanteilen.
    Völlig ungerecht ist dabei die neue Anrechnung von Einkommen: Zwar wurde der Grundfreibetrag auf ca. 2.500 € brutto/ca. 1.700 € netto erhöht, doch steigt der Eigenanteil ab Einsetzen der Zuzahlungspflicht rapide an: Geleistet werden muss dann ein Betrag von 2 % des über der Freigrenze liegenden JAHRESeinkommens – pro MONAT (also bis zu 24% des Bruttogehaltes, und zwar vom Netto!).
    Für die meisten Betroffenen, die über der Einkommensfreigrenze liegen, verschlechtert sich die Einkommensanrechnung teils drastisch.
    Bitte machen Sie sich stark für unser Ziel, die Einkommens- und Vermögensanrechnung ganz abzuschaffen, denn sie kostet mehr als sie Einnahmen generiert und beschränkt Menschen mit Behinderung aufgrund ihrer notwendigen Hilfebedarfe.
    Zumindest aber bitte ich Sie, sich dafür einzusetzen, dass der Einkommensbeitrag auf ein Maß reduziert wird, welches die gleichberechtigte Teilhabe nicht behindert. Dies wäre zum Beispiel ein Beitrag i.H.v. 2% des BruttoMONATSeinkommens pro MONAT (analog der Zuzahlungsgrenze in der gesetzlichen Krankenversicherung).

    Mit freundlichen Grüßen